Alle Welt spricht heute von Work-Life-Balance. Beim Wunsch nach mehr Freizeit geht vergessen, dass auch die Arbeit unserem Leben Sinn gibt. Manchmal macht das Durcheinander glücklich.
Keine Debatte um Teilzeitarbeit und Fachkräftemangel kommt derzeit ohne den Begriff Work-Life-Balance aus. Bereits Berufseinsteiger sprechen das Thema im Bewerbungsgespräch an, obwohl sie noch nie erwerbstätig waren und meistens auch keine Familie haben, womit Vereinbarungsfragen dringlicher würden. Die Gratiszeitung «20 Minuten», die sich an eine junge Leserschaft wendet, widmete dem Thema kürzlich einen Schwerpunkt. Es sei gar nicht so einfach, die für eine gesunde Lebensweise so wichtige Work-Life-Balance zu erreichen, stand auf der Titelseite: «Wir zeigen dir, wie du Arbeit und Freizeit in Einklang bringst.»
Um die jüngere Generation zu gewinnen, taucht das Wort immer häufiger auch in Stelleninseraten auf, in denen eine gute Work-Life-Balance etwa mit flexiblen Arbeitszeiten, Home-Office oder gleich der Möglichkeit eines späteren Sabbaticals versprochen wird. «Life» wird so sehr betont, dass selbst der Arbeitgeber den Eindruck erweckt, bei «Work» handle es sich lediglich um eine lästige Nebensache. Das Interesse an einem Job zu wecken, scheint nur noch möglich, wenn extra erwähnt wird, dass die Pausen vom Job genauso zum Stellenprofil gehören.
Arbeit hat an Wert verloren. Das erfährt jeder, der den Kult um die Work-Life-Balance infrage stellt. Als Steffen Kampeter, der Chef der deutschen Arbeitgeberverbände, neulich «mehr Bock auf Arbeit» forderte, um die Renten zu sichern, zog er im Netz so viel Zorn auf sich, als hätte er ein Arbeitslager für alle vorgeschlagen. Dabei wies er bloss darauf hin, dass man eine gute Work-Life-Balance auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hinbekomme.
Wie konnte der zeitgeistige Begriff diese Karriere hinlegen? Haben wir es mit der Arbeit so übertrieben? Lassen sich Arbeit und Leben denn gegeneinander abwägen? Und ist das Konzept der Trennung der beiden Bereiche überhaupt erstrebenswert?
Dem Konzept der Work-Life-Balance liegt ein Gegensatzdenken zugrunde, bei dem die Arbeit als notwendiges Übel betrachtet wird. Man leidet an ihr, sie entfremdet den Menschen von sich selbst, macht unfrei. Die von der Arbeit befreite Zeit hingegen bedeutet reine Freude, Genuss, Erfüllung. Als der Begriff «Freizeit» im 19. Jahrhundert aufkam, standen die Leute 16 Stunden am Fliessband, also war es angemessen, in der Freizeit das Gegenteil von Arbeit zu sehen. Die Fabrikarbeiter verbrauchten sich körperlich und psychisch und mussten sich erholen.
Mit wachsendem Wohlstand wurde die Freizeit wichtiger. Die Aktivitäten, mit denen man die freie Zeit verbringt, kosten ja auch etwas. Die bürgerliche Gesellschaft begründete eine eigentliche Freizeitkultur. Freizeit war nun die Zeit, in der man sich im Spiel zerstreute und Spass hatte – die selbstbestimmte Zeit. So wurde sie im vergangenen Jahrhundert zum Zentrum des modernen Lebensgefühls. Dabei kann die Freizeit selbst wieder Stress verursachen: Weil so viel los ist, man reisen geht, Yoga macht, Fussball spielt, Netflix schaut, aufs Smartphone starrt, hat man das Gefühl, immer weniger freie Zeit zu haben, selbst dann, wenn diese mehr wird im Vergleich zur Arbeitszeit.
Als der Begriff «Work-Life-Balance» Ende der 1979er Jahre erstmals aufkam, lag ihm tatsächlich eine neue Erfahrung zugrunde: Die Frauen wurden berufstätig und mussten daneben einen Haushalt führen. Bald darauf etablierte sich das Wort in der gesamten Arbeitswelt. Das Internet brachte mit sich, dass man vernetzter arbeitet, Flexibilität wird verlangt. In den heutigen kreativen und Wissensberufen bringt man sich mit der ganzen Person ein, man trägt mehr Verantwortung und kann die Arbeit mitgestalten. Die Arbeit wurde vielseitiger, aber auch vereinnahmender.
Daraus entspringt das Bedürfnis, sich stärker abzugrenzen. Und um Abgrenzung geht es bei der Work-Life-Balance: keine Mails mehr lesen nach sechs Uhr abends, keine Wochenendarbeit, Reduktion des Pensums auf drei Tage.
Doch der Work-Life-Begriff geht von einer falschen Prämisse aus, dass nämlich Arbeit und Leben streng voneinander getrennte Sphären sind. Dabei sind sie wechselseitig miteinander verbunden allein deshalb, weil das Arbeits-Ich und das private Ich ein und dieselbe Person sind. Man tauscht abends nicht seine Identität aus, wenn man den Laptop zuklappt. Sondern, was man erlebt, gelernt, geschaffen hat, nimmt man mit sich. Begegnungen mit anderen, die Freude über ein gelungenes Projekt, den Frust, einen Kunden verloren zu haben. Am Morgen setzt man sich wiederum ins Büro unter dem Eindruck der Gespräche, die man mit der Familie am Frühstückstisch führte.
In vielen Berufen beeinflussen sich Arbeit und Privatleben zwangsläufig. Die amerikanische Kinderärztin und Intensivmedizinerin Tessie October schrieb einmal, es sei eine Illusion, zu meinen, die Beziehungen zu den Patienten, bei denen es oft um Leben und Tod gehe, liessen ihr Privatleben unberührt. Manchmal erinnere sie der Blick einer kleinen Patientin an ihre Tochter. Dasselbe passiere in den Ferien, wenn sie einem krank aussehenden Mann am Strand in Gedanken eine Diagnose stelle. Die Arbeit habe ihr Leben infiltriert. Sie findet es nicht einmal schlimm. Sie schreibt: «Meine Arbeit ist mein Leben, und mein Leben ist meine Arbeit.» Das Konzept des Gleichgewichts ignoriere, «dass die Grenzen zwischen Arbeit und Leben oft fliessend sind».
Man trägt die Geschichten von der Arbeit nach Hause, denkt weiter an sie, erzählt von ihnen. Genauso ist bei der Arbeit der Kopf nicht immer frei von dem, was nichts mit der Arbeit zu tun hat.
Schon klar: Die moderne Arbeitswelt ist fordernd. Ständige Erreichbarkeit verstärkt das Gefühl, sich von der Arbeit nicht mehr erholen zu können. Mails und Nachrichten fluten herein. Da muss es möglich sein, immer wieder auch offline zu gehen. Aber auch dann bewährt sich die Mischdaseinsform: Checkt man in den Ferien halt einmal die Mails oder liest im Flugzeug ein Paper, statt bei der Rückkehr heillos überfordert zu sein, eine Aussicht, die bereits die letzten freien Tage beschwert. Man ging ja auch noch schnell die nötigsten Dinge einkaufen für die Reise. Während der Arbeitszeit.
Arbeit ist ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses. Man bringt seine Talente ein, erfährt Wertschätzung. Das bestätigt einen, und zwar nicht nur im Beruf, sondern darüber hinaus als Person. Arbeit ist erfüllend. Sie macht zufrieden, was die verhaltensökonomische Glücksforschung bestätigt. Wer hingegen arbeitslos ist, fühlt sich wertlos. Deshalb gleiten viele frisch Pensionierte in eine Depression. Manchmal fühlt man sich bereits in den Ferien ungut auf sich selbst zurückgeworfen. Im Müssiggang lauert die Krise. Arbeit lenkt ab.
Arbeit bedeute, mit anderen vernetzt, unter Menschen zu sein, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Bei der Arbeit gemachte Erfahrungen und Herausforderungen erweiterten «den Spielraum des Selbst», dieses könne dadurch «wachsen und sich um Exzellenz bemühen». Man erlebt es als sinnstiftend, dass man gebraucht wird, einen Beitrag an die Gesellschaft leistet und erst noch dafür entlöhnt wird. Das kann auch auf eine Putzfrau oder einen Bauarbeiter zutreffen. Eine Architektin oder ein Uni-Professor geniessen zusätzlich ein Prestige durch ihre Berufe, das auf ihr Leben abfärbt.
Weil die Zeit fernab der Arbeit eine solche Aufwertung erfährt, werden auch Abwarte und Kassiererinnen in Stellenanzeigen mit einer guten Work-Life-Balance beworben. Firmen, die verzweifelt nach Fachkräften suchen, wissen, warum: Laut einer Erhebung des beruflichen Netzwerks Xing von 2022 hat während der Pandemie ein Viertel der Berufstätigen in der Deutschschweiz die Stelle gewechselt. Rund 29 Prozent begründeten dies mit dem Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance. Was die Wirtschaftsdozentin Doris Eikhof bereits 2007 in ihrer kritischen Schrift «What Work? What Life? What Balance?» schrieb, hat sich bewahrheitet: Der Begriff impliziere, dass das Leben eine positive Erfahrung sei, die der Einzelne der Arbeit vorziehe.
«What Work? What Life? What Balance?» (Doris Eikhof, 2007)
Hat Freizeit für jemanden nicht diesen Wert und nimmt er es mit der Trennung der beiden Bereiche nicht so genau, bekommt er zu hören: «Jetzt schalte doch einmal ab.» Wer sich über seine Arbeit definiert, gilt gleich als Burnout-gefährdet. Auch die Ärztin Tessie October forschte während ihres Mutterschaftsurlaubs weiter, schrieb «abstracts» oder beriet Stipendiaten, wenn das Baby schlief, und kehrte voller Energie an die Arbeit zurück. Dort hielt man ihr ihre fehlende Work-Life-Balance vor und dass sie ihre Mutterschaft nicht richtig geniesse.
Es böte sich an, statt von Balance von Integration zu sprechen. Dann ständen sich die beiden Bereiche nicht so fremd gegenüber. Die Arbeit ist ins Leben integriert und umgekehrt. Beides ergänzt sich. Immerhin trifft man inzwischen häufiger auf die Rede von Work-Life-Blending, womit die Durchmischung gemeint ist.
Das ist aber bloss ein weiterer Lifestyle-Begriff, der unterschlägt, was Arbeit im besten Fall ist: Hingabe, Leidenschaft, Ablenkung, Erfüllung. Die enge Verknüpfung von Arbeit, Leben und sogar Lieben bleibt ein Ideal. Es sind die Künstler, die Leben und Beruf zu einem Gesamtkunstwerk verflechten.
Quelle: Birgit Schmid, «Neue Zürcher Zeitung», 11.03.2023 (hinter der Bezahlschranke)
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